Bundesministerium für Arbeit und Soziales
So sollte ein neues Bundesteilhabegesetzes entstehen

"Die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode darauf verständigt, die Leistungen an Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, aus dem bisherigen „Fürsorgesystem“ herauszuführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln.
... Menschen mit Behinderung und ihre Verbände werden wie auch die weiteren betroffenen Akteure von Anfang an und kontinuierlich am Gesetzgebungsprozess beteiligt."

Ziele des Bundesteilhabegesetzes

"Mit dem Bundesteilhabegesetz soll entsprechend der Vorgaben des Koalitionsvertrages die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessert und damit das deutsche Recht im Licht der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden."
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfach-machen.de, 2018 nicht mehr online

Vielleicht gab es ursprünglich tatsächlich gute Absichten und es waren Verbesserungen für behinderte Menschen geplant. Vielleicht war die „Beteiligung“ behinderter Menschen von vornherein als Alibifunktion gedacht. Vielleicht haben sich die „weiteren betroffenen Akteure“ hier durchgesetzt.
Behindertenverbände können sich – anders als z.B. die Pharmaindustrie – keine Legionen gut bezahlter Lobbyisten und Juristen für die Durchsetzung ihrer Interessen leisten. Bei kleineren Verbänden wird es schon zum Problem, Fahrtkosten zu erstatten. Da erscheint es einfach, Behindertenrechte unter den Tisch zu kehren.

Das Ergebnis ist – trotz Verbesserungen in Teilbereichen – so miserabel, dass Behindertenverbände massivst Kritik üben und sich gegen die geplanten Verschlechterungen wenden.

Bundesteilhabegesetz - Kommentar zur Veranstaltung am 29.10.2016 in Hamburg

Chasa Chahine: Wer in einer Welt lebt, in der man durch Geld, Macht und die richtigen Kontakte Probleme aus der Welt schaffen und Interessen durchsetzen kann, der hat nicht begriffen, worum es geht, wenn einem tagtäglich das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe abgesprochen wird und man sich sozusagen am anderen Ende der Kette der Reichen, Mächtigen und Einflussreichen, der sogenannten Strippenzieher befindet.
Bundesteilhabegesetz - Kommentar

Ermessensregelungen

Bei den Auseinandersetzungen zum BTHG wird immer wieder argumentiert, den Trägern sei erlaubt, in unklaren Fällen Ermessensleistungen zugunsten der Betroffenen zu erbringen.

Dazu ein Zitat des Forums selbstbestimmter Assistenz (ForseA): "In garantiert der weit überwiegenden Zahl der Ermessensentscheidungen werden diese gegen die Interessen der Antragsteller ausgeübt."
Bei ForseA gibt es inzwischen eine umfangreiche Sammlung zum Umgang deutscher Behörden mit Ermessensregelungen.
ForseA - Geschichten aus Absurdistan

Ergebnis: 380 Seiten Gesetzesentwurf, drei Wochen Zeit und enttäuschte Stellungnahmen

NITSA - Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz e.V.
Bundesteilhabegesetz - Faktencheck Beteiligungsprozess

Tatsächlich haben sich die Länder, Kommunen und die übermächtigen Träger der Sozialhilfe in nahezu allen Bereichen mit ihren Forderungen durchgesetzt. Der Beteiligungsprozess fand zwar „nicht ohne uns“, dafür aber „über uns“ statt. Eine Alibibeteiligung, die jetzt vom BMAS als Rechtfertigung für einen misslungenen Referentenentwurf herangezogen wird.
Bundesteilhabegesetz - Faktencheck Beteiligungsprozess

Juristische Stellungnahme
von RA Dr. Oliver Tolmein, Kanzlei Menschen und Rechte, für die Vereine / Verbände NITSA e.V., ForseA e.V. und MMB e.V.

...Jedenfalls ist der Zeitraum von etwa drei Wochen, der für die Stellungnahmen eingeräumt wird, angesichts der Komplexität des Stoffes und mit Blick auf dessen Umfang unangemessen.
... weil die Regelungen, die jetzt hier zu diskutieren sind, kein auch nur annähernd organisches oder logisches Ergebnis dieses Diskussionsprozesses darstellen. Sie lesen sich vielmehr, als habe es einen solchen Diskussionsprozess nicht gegeben.
... verstärkt den Eindruck, dass es hier nicht auf eine substantielle Erörterung der zugrunde liegenden Pflege und ihre konstruktive und zukunftsträchtige Lösung im Sinne der UN-BRK geht, sondern darum ein Gesetzesvorhaben vom Tisch zu bekommen, das in erster Linie fiskalisch motiviert ist.

...Ausdrücklich eingeschränkt werden Assistenz-Leistungen für leistungsberechtigte Personen, die ein Ehrenamt ausüben. Ihnen stehen ... lediglich die Erstattung „angemessener Aufwendungen für eine notwendige Unterstützung durch Personen aus dem familiären, befreundeten oder nachbarschaftlichen Umfeld“ und auch das nur „soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich erbracht werden kann.“ ... kann erhebliche Beeinträchtigungen des ehrenamtlichen Engagements von Menschen mit Behinderungen und damit von deren Selbstvertretungsmöglichkeiten führen.

... Poolen von Leistungen ... das man wohl als Zwangs-„Poolen“ verstehen muss. Hier soll § 104 (Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalls) greifen, der sich in Abs 3 faktisch als Vorschrift zur Eingrenzung des Selbstbestimmungsrechts erweist ... Der Gesetzgeber geht davon aus, dass „nicht selten“ mehrere Leistungsberechtigte gleiche Leistungen zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort benötigen, ergänzen müsste man wohl: auf gleiche Weise.

... Einkommen und Vermögensanrechnung ... Die Freilassung des Einkommens von Dritten ist grundsätzlich positiv, hilft aber wenig, wenn deren angespartes Einkommen hinterher als Vermögen schließlich doch einbezogen wird. ... Damit werden in Wahrheit 24% der übersteigenden monatlichen Einkünfte jeden Monat vom Nettolohn angerechnet.
Quelle: Stellungnahme-NITSA-ForseA-MMB.pdf bei Forsea - Bundesteilhabegesetz, nicht mehr online

Forum behinderter Juristinnen und Juristen

Angesichts des sehr kurzen Zeitfensters für die Vorlage einer Stellungnahme verzichtet das FbJJ darauf, sich mit sämtlichen einzelnen Vorschriften des Entwurfs im Detail auseinanderzusetzen.
... In die Stellungnahmen sind alle Informationen bis zum Stand 17. Mai 2016 eingegangen.

1. Wunsch - und Wahlrecht

... Bei der Beurteilung der Angemessenheit von Wünschen muss es darum gehen, dass die Eignung der ausgewählten Alternative im Vordergrund steht und nicht die Kosten der Maßnahme. ... Die Umsetzung dieses Prinzips ist erforderlich, um der in Art. 4 UN-BRK eingegangenen Verpflichtung Rechnung zu tragen, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern.
... dass nur der Leistungserbringer „geeignet“ zum Abschluss einer Vereinbarung ist, der „im Vergleich mit der Vergütung vergleichbarer Einrichtungen im unteren Drittel liegt“ ... Dieses untere Drittel wird mit jedem Abschluss einer Vereinbarung weiter nach unten abgesenkt. ... Diese deutliche Verschlechterung gegenüber der derzeitigen Rechtslage führt mittelfristig zu einer qualitativen Negativauslese
... Es ist vielmehr zu verankern, dass die Entscheidung über die Zumutbarkeit sich am Recht auf Selbstbestimmung und an den Grundsätzen der UNBRK orientieren muss.

2. Ausdrückliches Bekenntnis zur UN-Behindertenrechtskonvention

3. Gemeinsame Leistungserbringung, § 116 Abs. 2 SGB IX RefE

Das FbJJ kritisiert ... vorgesehene Möglichkeit, insbesondere Assistenzleistungen für mehrere Leistungsberechtigte ohne deren Zustimmung zusammenzuführen („Zwangspoolen“), da diese Zusammenlegung für die Betroffenen mit einem unzulässigen Verlust an Selbstbestimmung und persönlicher Autonomie verbunden ist.
... Ein weiterer Aspekt, dem bislang kaum Beachtung geschenkt wurde, ist das Entstehen einer lebensbedrohenden Versorgungslücke. ...Nach alledem dürfte es kaum Fälle geben, in denen ein Poolen von Assistenz gegen den Willen der Betroffenen „zumutbar“ ... geschweige denn verfassungsrechtlich zulässig ist.

4. Unzureichende Verbesserung bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen

Das FbJJ kritisiert ... die Leistungen der Eingliederungshilfe vom Einkommen und Vermögen der Leistungsberechtigten abhängig gemacht werden, weiterhin Partnerinnen und Partner der Leistungsberechtigten grundsätzlich mit ihrem Vermögen für deren Fachleistungen einzustehen haben, Eltern behinderter Kinder mit ihrem Einkommen und Vermögen für Fachleistungen der Eingliederungshilfe herangezogen werden ...
... Im Übrigen sehen selbst Träger der Eingliederungshilfe die Erhebung eines Einkommensbeitrages kritisch, da der Verwaltungsaufwand in keinem Verhältnis steht.
... Dadurch verbleibt es dabei, dass ein Großteil der Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe wegen gleichzeitiger Bedarfe in der Hilfe zur Pflege (oder auch in der Blindenhilfe) weiterhin höchstens 2600 € ansparen darf. Dadurch führt das Bundesteilhabegesetz zu keinen entscheidenden finanziellen Verbesserungen für Menschen mit Behinderung.

5. Behinderungsbegriff

... Eine UN-BRK-konforme Definition der Behinderung könnte daher wie folgt lauten: Eine Behinderung liegt vor bei Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen, wenn sie in der Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden können. Eine Beeinträchtigung ist die Auswirkung einer gesundheitlichen Schädigung auf eine körperliche Funktion, die geistige Fähigkeit, seelische Gesundheit oder die Sinneswahrnehmung im Wechselverhältnis zu den üblichen Anforderungen.

6. Fehlen der Persönlichen Assistenz als Leistungsform

Das FbJJ fordert die Einführung und Legaldefinition der ,Persönlichen Assistenz‘ als eine besondere Leistungsform ...

7. Persönliches Budget

Das FbJJ kritisiert, dass die Neugestaltung des Teilhaberechts nicht zum Anlass genommen wurde, das Persönliche Budget an aktuelle Entwicklungen anzupassen und insgesamt weiterzuentwickeln.

8. Unabhängige Teilhabeberatung

Das FbJJ begrüßt grundsätzlich sehr die in § 32 SGB IX RefE geregelte ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. ... Dabei muss ein besonderes Augenmerk auf die Unabhängigkeit dieser Beratung gelegt werden.

... Demnächst mehr Infos!

V. Schlussbemerkung

Aus Sicht des FbJJ enthält der vorliegende Referentenentwurf an einigen Stellen Verbesserungen, bedarf aber einer grundlegenden Überarbeitung. Das FbJJ wird den weiteren Gesetzgebungsprozess weiterhin kritisch begleiten und bietet an dieser Stelle seine konstruktive Mitarbeit ausdrücklich an.

Bundesteilhabegesetz: Stellungnahme des Forums behinderter Juristinnen und Juristen

Bundesteilhabegesetzes: Stellungnahmen von am "Gesetzgebungsprozess beteiligten" Verbänden.

Berücksichtigt wurden hier nur Institutionen, in denen sich behinderte Menschen selbst vertreten. Es werden Verschlechterungen befürchtet.

Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus

... müssen uneingeschränkt Zugang zu allen bisherigen Leistungen für Menschen mit Behinderungen behalten. Es darf keinesfalls einen Wegfall von Leistungen geben !

Bundesarbeitsgemeinschaft der betrieblichen Schwerbehindertenvertretungen in Deutschland e.V. (BbSD)

Im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) werden zwar einige unserer Forderungen berücksichtigt, aber unser Kernpunkt - eine verbriefte Stärkung und Mitwirkungsmöglichkeit der Schwerbehindertenvertretungen - ist nicht dabei.

Deutsche AIDS - Hilfe

Mit großer Sorge betrachten wir allerdings den nun vorliegenden Gesetzesentwurf.

Deutsche Rheuma-Liga

Es ist beschämend, dass die Bundesregierung ein Gesetzeswerk als „modernes Teilhaberecht“ bezeichnet, das in erster Linie als Spargesetz ausgestaltet ist. Dieses Gesetz befördert Teilhabe nicht, sondern behindert sie.

Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. DBSV)

Das Bundesteilhabegesetz ist das größte behindertenpolitische Projekt der laufenden Legislaturperiode – vielleicht sogar der letzten Jahrzehnte. Die Bundesregierung hat mit der frühzeitigen und beispielgebenden Beteiligung behinderter Menschen die große Erwartung geweckt, dass nun endlich längst überfällige Reformen angegangen werden und ein ebenso beispielgebendes modernes, menschenrechtsbasiertes Bundesteilhabegesetz vorgelegt wird.
... Zu § 78 - Assistenzleistungen ... wird ausgeführt, dass Assistenzleistungen der Alltagsbewältigung und Tagesstrukturierung dienten. Dieses Verständnis ist deutlich verengt und mit der UN-BRK nicht vereinbar. Vielmehr muss es um die Absicherung der selbstbestimmten Lebensführung gehen. Das, was der Entwurf im Übrigen unter „Assistenz“ versteht, ist persönliche Unterstützung und sollte auch so benannt werden, denn persönliche Assistenz ist im Gegensatz dazu eine Leistungsform ... Das gewährt den Rehabilitationsträgern einen Einfluss auf die Leistungsausführung und schränkt damit das Selbstbestimmungsrecht der Berechtigten erheblich ein.
... Unterscheidung nach „einfachen“ Assistenzleistungen (Handreichungen) und qualifizierten Assistenzleistungen (Anleitung / Befähigung), erscheint überdies vollkommen ungeeignet, um die Erbringung bedarfsgerechter Leistungen sicherzustellen, sondern es drohen im Gegenteil erhebliche Leistungseinschränkungen bzw. Leistungslücken.
... Wir brauchen endlich ein Teilhaberecht, das seinen Namen verdient und es uns ermöglicht, chancengleich und ohne Diskriminierung am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Deutscher Gehörlosen-Bund e.V.

Mit Sorge werden vom DGB jedoch die im vorgelegten Gesetzesentwurf enthaltenen Einschränkungen bisheriger Leistungen für Menschen mit Behinderung gesehen, wodurch wir eine deutliche Verschlechterung für die Menschen mit Behinderung befürchten, sowie keine Chance auf eine echte volle, wirksame und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.
... Die Formulierung „aus besonderem Anlass“ führt zu starken Einschränkungen und zu einer Vielzahl von Einzelfallentscheidungen statt generellen Lösungen und es ist abzusehen, dass diese Formulierung zu einer Vielzahlt von Rechtsstreitigkeiten führen wird. Diese Einschränkung muss ersatzlos gestrichen werden.

Deutscher Schwerhörigenbund e.V.

Hierbei besteht die ernsthafte Befürchtung, dass der Gesetzesentwurf Sparbestrebungen der Länder und Kommunen in einer Weise eröffnet, die bisher erreichte Standards gefährden.

... Demnächst mehr Infos!

Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfach-machen.de, 2018 nicht mehr online